Ist Introversion auf einem Spektrum mit Autismus?

Veröffentlicht am 17. Juli 2025 um 09:56

Hast du dich schon einmal gefragt, ob Introversion eine "mildere Form" von Autismus ist?

Damit bist du nicht allein. Viele Menschen bemerken Ähnlichkeiten, wie etwa die Vorliebe für tiefe 1:1 Gespräche statt Smalltalk, das Bedürfnis nach Zeit allein zum Auftanken, oder das Gefühl der Überforderung in lauten Umgebungen. Doch obwohl Introversion und Autismus sich einige Merkmale teilen, sind sie nicht dasselbe – und die „Single Continuum Theory“ wurde bisher nie bewiesen!

Der Grund:

  • Introversion ist ein Persönlichkeitsmerkmal: Eine natürliche Art, wie manche Menschen Energie tanken und mit Gruppen umgehen.

  • Autismus ist eine neurodevelopmentale Besonderheit: Eine einzigartige Art, Informationen, soziale Signale und Sinneseindrücke zu verarbeiten.
    Beides ist valide, beides bringt Stärken mit sich – doch die Wurzeln sind unterschiedlich.

=> Wem dieser Text zu lange zum lesen ist, der kann sich bald auch das Video das ich dazu gemacht habe. Es erscheint im August auf meinem Youtube Kanal und wird dann hier verlinkt.

Die "Single Continuum Theory": Ein kurzer Einblick

Einige Forscher vermuten, Introversion und Autismus könnten auf dem gleichen Spektrum liegen, mit Introversion am „milderen“ und Autismus am „stärker ausgeprägten“ Ende.

Ursprung der Theorie:

Verschiedene Forscher haben sich mit diesem Thema beschäftigt, nachdem Simon Baron-Cohen 2001 das Konzept populär gemacht hatte, dass Autismus ein Spektrum ist. Er selbst vertritt diese Theorie jedoch nicht!

Eine der ersten Arbeiten, die diese Theorie nahelegte:

Wakabayashi et al. (2006) untersuchten den Zusammenhang zwischen den Big Five-Persönlichkeitsdimensionen, gemessen mit dem NEO-PI-r, und dem Autism-Spectrum Questionnaire (ASQ).
- Er fand jedoch keine Beweise dafür, und seitdem hat auch niemand anderes welche gefunden. ABER:
- Was sie fanden, waren einige Gemeinsamkeiten zwischen stark introvertierten Menschen und autistischen Menschen.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Insgesamt habe ich 7 begutachtete, veröffentlichte Studien zu diesem Thema gefunden (siehe Quellenangaben unten). Die folgende Liste mit den wichtigsten Unterschieden und Gemeinsamkeiten ist eine sehr kurze Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Studien (nicht meine persönliche Meinung, die steht im Fazit).

Fünf wesentliche Unterschiede zwischen Introversion und Autismus

1. Soziale Motivation
* Introvertierte Menschen meiden vielleicht Partys, sehnen sich aber dennoch nach tiefen Beziehungen und können zu diesem Zweck Kontakte knüpfen, sozial sein und Freundschaften aufbauen.
* Autisten nehmen soziale Signale möglicherweise gar nicht wahr. Das macht es für sie viel schwieriger, positive soziale Erfahrungen zu machen.

2. Routine und Flexibilität
* Introvertierte Menschen können sich an Veränderungen anpassen, auch wenn sie Vertrautes bevorzugen.
* Viele autistische Menschen sind oft auf Routinen angewiesen, um funktionieren zu können im Alltag. Introvertierte mögen zwar auch ihre eigenen individuellen Routinen, sind aber im Allgemeinen nicht davon abhängig.

3. Sensorische Empfindlichkeit
* Viele Introvertierte neigen auch zu hoher Sensitivität, beispielsweise gegenüber sich wiederholenden oder lauten Geräuschen.
* Autistische Menschen empfinden sensorische Reize oft als körperlich überwältigend oder sogar schmerzhaft.

4. Kommunikationsstil
* Introvertierte Menschen können häufig selbst entscheiden, ob sie ihre introvertierten Eigenschaften in der Kommunikation  maskieren möchten, oder nicht.
* Für Autisten ist dieses maskieren sowohl eine Notwendigkeit in einem sozialen Umfeld als auch sehr kräftezehrend. Die Kommunikation von Autisten kann zu wörtliches Denken, ungewöhnliche Formulierungen oder Schwierigkeiten mit nonverbalen Signalen umfassen.

5. Unterschiedliche Gehirne
* Introvertierte Menschen verstehen intuitiv die Perspektiven anderer (auch wenn sie sich nicht immer darauf einlassen).
* Neurodivergente Gehirne funktionieren anders, und ... unter einem fMRT-Gehirnscan sehen sie auch anders aus. Autistische Menschen haben häufig Schwierigkeiten mit Dingen wie Augenkontakt oder zu wörtlichem Denken, egal wie sehr sie sich auch bemühen. Das ist bei Introvertierten nicht der Fall.

Drei Gemeinsamkeiten

1. Tiefe Konzentration und Leidenschaft zum Lernen
* Sowohl introvertierte als auch autistische Menschen zeichnen sich in ihren speziellen Interessen aus, und vertiefen sich mit unvergleichlicher Intensität (Hyperfokus) in diese Themen. Dadurch lernen Sie diese sehr schnell und tief gehend.

2. Ehrliche, authentische Beziehungen
* Small Talk? Nein, danke. Beide Gruppen legen Wert auf authentische, bedeutungsvolle Interaktionen. Beide bevorzugen Alleinsein, um neue Energie zu tanken, und widmen sich eher introvertierten Hobbys, wie Lesen oder kreativen Handarbeiten.

3. Einzigartige Problemlösungsfähigkeiten
* Unterschiedliche sensorische Verarbeitung, unterschiedliche Wahrnehmung von Mainstream-Trends und unterschiedliche Perspektiven führen zu kreativen, neuen Lösungen. Sei es die reflektierende Einsicht eines Introvertierten oder das unkonventionelle Denken eines Autisten. Wer innovative Lösungen sucht braucht Introvertierte oder Autisten im Team!

Das Fazit

Introvertiertheit und Autismus haben zwar sowohl Stärken als auch Herausforderungen gemeinsam, aber sie sind nicht zwei Punkte auf demselben Spektrum.

   => Warum richtet sich mein YouTube-Kanal dann an beide Gruppen?

Wegen den vielen Überschneidungen! Beide Gruppen fühlen sich in lauten Umgebungen überfordert ...
Beide werden oft als „zu sensibel” bezeichnet ...
und beide – seien wir ehrlich – sind es leid, ständig zu hören, sie sollten „einfach mal mehr raus gehen” ...

Aber noch wichtiger ist, dass sich auch unsere Stärken und Hobbys oft überschneiden...
Wir neigen dazu, viel zu lesen und haben daher eine längere Aufmerksamkeitsspanne. Wir bevorzugen eher introvertierte Hobbys und spezielle Interessen, und wir kennen das Gefühl, sich manchmal fremd zu fühlen in einer Welt, die für und von Extrovertierten geschaffen wurde.
Wir neigen dazu, eine recht lebhafte Fantasie zu haben, was sich in der großen Vielfalt an Büchern und fiktiven/alternativen Welten zeigt, in denen wir gerne Zeit verbringen ...

Es gibt viele Vorteile, introvertiert zu sein, und wir neigen dazu, diese zu kennen und zu lieben.

Wenn du dich hier wieder findest, dann schau doch mal vorbei auf meinem Youtube Kanal :-)

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Studien:

1. Baron-Cohen et al. (2001)

Title: The Autism-Spectrum Quotient (AQ): Evidence from Asperger Syndrome/High-Functioning Autism, Males and Females, Scientists and Mathematicians
Journal: Journal of Autism and Developmental Disorders

Relevance: Supports the idea that introversion and autism share certain social and cognitive traits. Officially introduces the Spectrum concept for Autism.

 

2. Wakabayashi et al. (2006)

Title: Are Autistic Traits an Independent Personality Dimension? A Study of the Autism-Spectrum Quotient (AQ) and the NEO-PI-R
Journal: Personality and Individual Differences
Relevance: Highlights shared traits but argues for separate dimensions

 

3. Vuijk, R., Deen, M., Sizoo, B. et al. (2018)
Title: Temperament, Character, and Personality Disorders in Adults with Autism Spectrum Disorder: a Systematic Literature Review and Meta-analysis.
Journal: Rev J Autism Dev Disord 5, 176–197
Relevance: Investigates primary literature on this topic

 

4. Liss et al. (2008)

Title: Sensory Processing Sensitivity and Its Relation to Parental Bonding, Anxiety, and Depression
Journal: Personality and Individual Differences

Relevance: Suggests a sensory-based continuum between introversion and autism.

 

5. Nettle (2006)

Title: Schizotypy and Mental Health Amongst Poets, Visual Artists, and Mathematicians
Journal: Journal of Research in Personality

Relevance: Connects introversion to autistic cognitive styles (e.g., detail focus).

 

5. Crespi & Badcock (2008)

Title: Psychosis and Autism as Diametrical Disorders of the Social Brain
Journal: Behavioral and Brain Sciences

Relevance: Positions introversion as part of a broader neurodevelopmental spectrum.

 

7. Stewart & Austin (2009)

Title: The Structure of the Autism-Spectrum Quotient (AQ): Evidence from a Student Sample in Scotland
Journal: Personality and Individual Differences

Relevance: Reinforces the overlap in social and cognitive traits.

 

8. Grimes (2005) [Master Thesis Reference]

Title: Introversion and Autism: A Conceptual Exploration

Relevance: Directly supports the continuum hypothesis.